Hermann Knoblauch
Vor genau einhundert Jahren erschien die erste deutsche Übersetzung von H. P. Blavatskys The Secret Doctrine – The Synthesis of Science, Religion and Philosophy – Die Geheimlehre. Umso mehr freue ich mich, dass zum Beginn des neuen Jahrhunderts und damit zum Beginn des neuen Jahrtausends erstmals wieder in Deutschland und erstmals wieder direkt von der Theosophischen Gesellschaft die Standardwerke H. P. Blavatskys Die Geheimlehre und Isis Entschleiert als Originalausgaben in deutscher Übersetzung verlegt werden konnten.
Mit dieser Neuauflage der ersten deutschen Gesamtausgabe der Geheimlehre von 1919 erhält der deutschsprachige Leser die einzige bisher revidierte Ausgabe, die das große Verdienst des Theosophischen Verlagshauses, Leipzig, ist – eine Meisterleistung, die in den Nachwehen des ersten Weltkrieges unter schwersten Bedingungen bewältigt wurde. Änderungen waren vor allem orthografischer Art, der Inhalt blieb vollkommen unberührt. Tatsächlich macht die glänzende Übersetzungsarbeit Dr. phil. Robert Froebes jede weitere Überarbeitung zum gegenwärtigen Zeitpunkt überflüssig, sodass auch auf eine Anpassung an die neue deutsche Rechtschreibung verzichtet wurde.
Die Reproduktion der ersten deutschen Gesamtausgabe wurde mit modernsten technischen Verfahren vorgenommen. Wenn nach nunmehr achtzig Jahren der Standard des heutigen Buchdrucks nicht immer erreicht werden konnte, wird der Leser dies angesichts der historischen Bedeutung dieser monumentalen Werke H. P. Blavatskys gern in Kauf nehmen. Ich selbst bin auch heute noch, nach Jahrzehnten, meinen Freunden und Helfern im Ausland dankbar, die mir in der schweren Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges über Jahre hinaus neben der Geheimlehre und Isis Entschleiert qualitativ sehr gut erhaltene theosophische Originalliteratur besorgt haben. Ihnen ist es mit zu verdanken, dass die Theosophische Gesellschaft nach dem Kriege wieder in voller Aktivität Fuß fassen konnte.
Aktualität der Geheimlehre
Die Frage, ob Die Geheimlehre heute noch aktuell ist, wird jeden überraschen, der mit ihrem Inhalt nur einigermaßen vertraut ist. Dennoch ist es eine Frage, die mit Recht gestellt wird und die jedem Schüler der Alten Weisheit willkommen ist. Tatsächlich hat die literarische Hinterlassenschaft H. P. Blavatskys auch nach über einhundert Jahren nicht an Aktualität verloren, vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Ihr weitreichender Inhalt erschließt sich den Forschern aller Richtungen mit jedem Jahrzehnt und mit jedem Jahrhundert ein wenig mehr. Ständig fließen Erkenntnisse, die von H. P. Blavatsky dargelegt und vorausgesagt wurden, in den Wissens- und Erfahrungsschatz der Wissenschaften ein. Durch die hoch technisierte Forschung und die rasante Entwicklung auf nahezu allen Gebieten eröffnen sich ständig neue Möglichkeiten, altes Wissen aus der Vergessenheit zu befreien und in unser modernes Zeitalter hinüberzuretten.
Wir dringen in Mikro- und Makrowelten nicht gekannten Ausmaßes ein. Immer komplexere Lebenszusammenhänge werden dadurch sichtbar. Hier liegt die große Chance für das bevorstehende neue Jahrtausend: Wir öffnen uns wieder den grundlegenden Fragen nach dem Sinn und dem Ziel unserer Evolution. Damit gewinnt Die Geheimlehre zunehmend an Bedeutung. Mit der Wiederbelebung der fundamentalen Lehren über Reinkarnation und Karma sind bereits große Wandlungen im Denken eingetreten. Zu Recht wird H. P. Blavatskys Wirken daher als der spirituelle Beginn eines neuen Zeitalters gewertet, in dem das materialistische Weltbild Schritt für Schritt einer umfassenderen Weltsicht weicht, die einer von Geist und Intelligenz geleiteten Evolution Rechnung trägt.
So läutete H. P. Blavatsky, unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, bereits vor nunmehr über einhundert Jahren die Renaissance „ursprünglicher Wissenschaft“ ein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der neuen Generation in der ganzen Welt haben die verderblichen Folgen und zerstörerischen Auswirkungen des krassen Materialismus weitgehend erkannt. Sie beziehen und berufen sich zunehmend auf die alten, zeitalterlang überlieferten Weisheitslehren, die unveränderbar und allen menschlichen Irrungen zum Trotz die Zeitalter hindurch bestehen. Damit treten sie vielfach etablierten Lehrmeinungen entgegen. Theorien und Hypothesen wie die des „Urknalls“ und des „Darwinismus“ sowie die fatale Ansicht, Leben könne aus „toter Materie“ entstehen, sind inzwischen schon weitgehend als unhaltbare Axiome erkannt worden. Sie weichen der wachsenden Anerkennung universaler Prinzipien, die erst in der angewandten Synthese von Natur- und Geisteswissenschaften offenbar werden. Diese Synthese verbindet die drei großen Denkrichtungen des Menschen: Religion, Wissenschaft und Philosophie. Erst in dieser Einheit können der tiefere Sinn und die kausalen Zusammenhänge des Lebens in ihrer vernetzten Komplexität erfasst und verstanden werden. Die Geheimlehre ist in diesem Sinne Wegweiser und Führer in eine neue wissenschaftliche Zukunft.
Historischer Überblick
Die erste, von Theosophen in der ganzen Welt mit Spannung erwartete Veröffentlichung von The Secret Doctrine erfolgte nach einigen Verzögerungen am 20. Oktober 1888 in London – ein historisches Datum!
Die Entstehungsgeschichte lässt sich einige Jahre zurückverfolgen. Bereits im Januar 1884 wurde im Journal of the Theosophical Society eine neue Version von Isis Entschleiert mit dem Titel The Secret Doctrine angekündigt. Der Erscheinungstermin des Werkes wurde aber im Laufe des Jahres laut kurzen Meldungen in The Theosophist mehrfach hinausgeschoben. Anstelle der ursprünglich geplanten erweiterten Version von Isis Entschleiert entstand jedoch ein völlig eigenständiges Werk: Die Geheimlehre.
Als H. P. Blavatsky im April 1885 von ihrer letzten Reise nach Indien endgültig nach Europa zurückkehrte, schrieb sie auf hoher See etliche Manuskriptseiten. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Nähe von Neapel nahm sie dann die eigentliche Arbeit im Oktober 1885 in Würzburg auf, wo sich ihr unermüdlicher Einsatz und Enthusiasmus für Die Geheimlehre unaufhaltsam entfaltete. Im Laufe des Jahres 1886 verließ sie Würzburg und erreichte über Stationen in Elberfeld (Wuppertal) und Ostende (Belgien) im Mai 1887 London. Hier vollendet sie schließlich ihr spektakuläres Werk. Weltweit erregte es Aufsehen. Begeisterung und Ablehnung gaben sich die Hand. Noch im Jahr seines Erscheinens wurde ein Neudruck erforderlich, da die Erstausgabe innerhalb kürzester Zeit vergriffen war – die Welt horchte auf!
Von 1888 bis 1897 bestand die englische Ausgabe der Geheimlehre lediglich aus den beiden Bänden Kosmogenesis und Anthropogenesis. Band III, Esoterik, wurde aus der literarischen Hinterlassenschaft H. P. Blavatskys zusammengestellt (siehe Band III, Vorrede) und erst 1897, also sechs Jahre nach ihrem Tod, veröffentlicht. Welche Bedeutung der Geheimlehre zukam, zeigt sich auch daran, dass allein von dem Theosophical Publishing House Limited, London, in den Jahren von 1888 bis 1928 neben der Erstausgabe zwei weitere Auflagen und acht unveränderte Nachdrucke aufgelegt wurden.
1899, bereits elf Jahre nach Erscheinen der englischen Erstausgabe, war der hervorragenden Übersetzungsarbeit Dr. phil. Robert Froebes die erste deutsche Ausgabe der Geheimlehre zu verdanken. Sie erschien in Leipzig und enthielt ebenfalls nur zwei Bände. Es folgten weitere Nachdrucke, u. a. in Berlin sowie in den späten 1960er Jahren in Den Haag, Holland, denen weitere Auflagen folgten (ohne Datumsangabe).
1919 setzte sich das Theosophische Verlagshaus Leipzig das verdienstvolle Ziel einer ersten deutschen Gesamtausgabe in revidierter Fassung. Gegenüber den bisherigen zwei Bänden wurde Die Geheimlehre nun um den Band III, Esoterik, erweitert. Auch der bisher ganz fehlende Indexband (Band IV) wurde in Anlehnung an den englischen Index, der lediglich die ersten beiden Bände umfasste, für alle drei Bände ergänzt und bearbeitet. Dies war eine äußerst mühevolle Aufgabe, die trotz der schwierigen Zeit nach dem ersten Weltkrieg in Angriff genommen wurde.
Der Index, ein umfassendes Namen- und Sachregister, enthält etwa 100.000 Begriffe zur inhaltlichen Erschließung des Gesamtwerks, das damit seinen enzyklopädischen Charakter bezeugt. In dieser umfassenden Komplexität offenbart Die Geheimlehre die erstaunliche Fülle der zeitlosen, universell anwendbaren Weisheitslehren, die H. P. Blavatsky der Menschheit als ihr angestammtes Erbe wieder zurückbrachte.
Ausblick
Mit der neuerlichen Herausgabe der Geheimlehre verbinde ich die Hoffnung, dass die in ihr enthaltenen Lehren noch stärker als bisher in das wissenschaftlich geprägte Weltbild der Gegenwart Eingang finden. Denn die Herausforderungen des neuen Jahrtausends werden immens sein, und das naturwissenschaftliche Weltbild wird in seinen Grundlagen revolutioniert werden. Die Geheimlehre hat in dieser Hinsicht schon viel bewirkt, aber ihr Potenzial ist noch längst nicht ausgeschöpft. Doch H. P. Blavatsky gibt einen wichtigen Fingerzeig, sie sagt:
„Die Natur überlässt nur dem ihre inneren Geheimnisse und teilt wahre Weisheit nur demjenigen mit, welcher die Wahrheit um der Wahrheit willen sucht und welcher nach Wissen begehrt, um anderen, nicht seiner eigenen, unwichtigen Persönlichkeit Wohltaten zu erweisen.“
Voraussetzung hierfür ist ein nachhaltiges Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein gegenüber Mensch und Natur, denn alles Übel in der Welt entspringt einer einzigen Wurzel – dem Egoismus.
H. P. Blavatskys herausragendes Ziel war es, die Wissenschaften zu einer Synthese zusammenzuführen, um sie gemeinsam aufgehen zu lassen in jener alles verbindenden Universalen Bruderschaft, der Ethik als wahrer Grundbaustein menschlichen Geistes zugrunde liegt – doch das Werk möge für sich selbst sprechen.
Hannover, Mai 1999
Hermann Knoblauch
Leiter der Theosophischen Gesellschaft Point Loma – Covina, USA
Direkte Nachfolge der amerikanischen Gründungsgesellschaft von 1875, New York, USA
www.Theosophische-Gesellschaft.de